Ziel des neuen Strom-Markts: 100 Prozent Erneuerbare bis 2030
Liebe Leser*innen,
am 18. September wurde mein Gastbeitrag zur Notwendigkeit einer neuen Strommarktordnung mit Vorrang für dezentrale, erneuerbare Energien im Klimareporter veröffentlicht:
„Die Strompreise explodieren in dieser Krise, auch wegen einer verfehlten Strommarktordnung. Wir brauchen dringend einen neue, die sich an den dezentralen kostengünstigen erneuerbaren Energien orientiert und nicht mehr an maximalen Gewinnen fossiler und atomarer Energiekonzerne. Aber auch überzogene Gewinne von Solar- und Windstromerzeugern sind schleunigst zu beenden.
Schon vor dem Aggressionskrieg Russlands gegen die Ukraine schossen die Energiepreise in die Höhe aufgrund weltweiter Engpässe bei der Verfügbarkeit fossiler und atomarer Rohstoffe. Mit dem Krieg wurde dann vor allem der Erdgaspreis nach oben getrieben, da Putin Energie auch als Waffe gegen die EU einsetzt.
Dass Putin überhaupt diese Marktmacht hat und Energie politisch missbrauchen kann, ist das Ergebnis einer massiv verfehlten Energiepolitik unter 16 Jahren Merkel-Regierung. Dazu gehören ein gesetzlich verordnetes Abwürgen der erneuerbaren Energien, erst eine Laufzeitverlängerung der AKW und dann die Kehrtwende mit dem Atomausstieg sowie die immer stärkere Energieabhängigkeit von ausländischen Lieferanten, insbesondere Russland.
Die weitere Aufheizung der Erde, die zunehmenden Dürren und Hitzewellen in der EU sind Zeugnis dieser verfehlten Energiepolitik unter Merkel, geschaffen von den zuständigen Ministern Gabriel (SPD), Rösler (FDP) und Altmaier (CDU).
Wäre das durch das rot-grüne Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) angestoßene exponentielle Wachstum regenerativer Energie nach 2012 fortgeführt worden, könnte Deutschland heute mit 100 Prozent Ökostrom versorgt werden. Die jetzige dramatische Abhängigkeit von russischer Energie gäbe es nicht. Auch beim Klimaschutz würde Deutschland ein echter Vorreiter sein.
Die Strompreise explodieren aber auch, weil die Strombörse die aktuelle gesetzlich fixierte Strommarktordnung dominiert. Zugleich gibt es keine umfassenden gesetzlichen Anreize mit dem Ziel, sich selbst mit kostengünstigem Ökostrom zu versorgen.
Wer heute Strom direkt vom Grünstromhändler oder Ökostromerzeuger, zum Beispiel über sogenannte PPA-Lieferverträge bezieht bzw. seinen Strombedarf aus Erneuerbaren selbst erzeugt, den berühren die aktuellen hohen Strompreise kaum.
Alle, die in der Vergangenheit aktiv in Klimaschutz investierten, stehen heute besser da, als diejenigen, die vorrechneten, erneuerbare Energien seien nicht wirtschaftlich.
Massive gesetzliche Hürden für echte Energiewende
Der Grundfehler der heutigen gesetzlichen Strommarktordnung besteht darin, dass die meisten Energiekund*innen weiterhin bei Energiekonzernen – ob nun aus Bequemlichkeit oder Unwissenheit – gefangen bleiben. Den Leuten wird nach wie vor mehrheitlich fossile und atomare Energie verkauft, anstatt dass sich die Stromkund*innen selbst mit erneuerbarer Energie versorgen.
Mit Hilfe von Solarstrom und -wärme, von Batterien, Wärmepumpen in Verbindung mit Geothermie sowie E-Autos oder einem zusätzlichen Blockheizkraftwerk auf Bioenergiebasis, vor Ort möglich ergänzt mit Kleinwasserkraft oder Kleinwindrädern, könnten heute längst wesentlich mehr Stromkund*innen unabhängig von Energiekonzernen sein.
Wer es nicht allein schafft, könnte Energie mit den eigenen Nachbar*innen tauschen (Energy Sharing) oder sich in der Dorfgemeinschaft bzw. im städtischen Quartier mit anderen in Energiegemeinschaften zusammenschließen.
Diese Energieautonomie, geschaffen durch Klimaschutzaktivitäten, ist heute nur wenig verbreitet. Aber alle, die sie verwirklicht haben, haben keine Furcht vor dem kommenden Winter.
Doch warum sind es nur so wenige?
Die Antwort ist klar: Die politische und mediale Macht der Energiekonzerne hat eine für sie dienliche Strommarktordnung im seit 1998 liberalisierten Strommarkt geschaffen. Aus den im Kriegsregime Hitlers gegründeten Gebietsmonopolen wurden in Deutschland marktdominante Konzerne wie RWE, E.ON, Vattenfall oder EnBW.
Dem mit dem EEG 2000 wachsenden Ausbau der Erneuerbaren und der damit möglichen Selbstversorgung wurden durch den Lobbyismus der Konzerne massive gesetzliche Hürden entgegengesetzt, darunter:
- der Wechsel von der gesetzlich garantierten Einspeisevergütung hin zu staatlichen Ausschreibungen;
- die 2010 vorgenommene Änderung des Wälzungsmechanismus im EEG;
- ein massiver Bürokratiewust mit Zähler- und Berichtspflichten; Steuerbürokratie; Sonnensteuer; Netzanschlusshürden; Genehmigungsverhinderung mit Gründen von Denkmalschutz, Landschaftsoptik, Vögel und Fischen. bis hin zur reinen Willkür.
Die Strombörse, die ja erst Ende der 90er Jahre gegründet wurde, zementiert dabei mit ihrem Merit-Order-Prinzip die Marktmacht der Energiekonzerne. Die Merit-Order bestimmt, dass alle Einkäufer*innen an der Börse einen Strompreis zu zahlen haben, der sich am teuersten Kraftwerk orientiert. Diesen hohen Strompreis bestimmen aktuell die sündteuren Erdgaskraftwerke. Zusätzlich treibt der Stillstand von fast der Hälfte der französischen Atomkraftwerke die Strompreise nach oben. Von wegen Atomkraft schaffe Versorgungssicherheit!
Strommarktordnung von Grund auf neu denken
Angesichts all dessen muss die Strommarktordnung von Grund auf neu gedacht werden. Der Gesetzgeber muss sich endlich befreien von den Interessen der konventionellen Energieversorger. Eine neue Strommarktordnung, die kostengünstige und versorgungssichere, unabhängige Energie für alle schafft, muss zunächst auf folgenden Zielen beruhen:
- 100% Ökostrom (Solar, Wind, Wasser, Bioenergie, Geothermie) bis spätestens 2030 für alle Stromnutzer*innen und alle Energiesektoren;
- Vorrang für die dezentrale bürgerliche Ökostromerzeugung, also für Selbstverbrauch, für Überschusseinspeisung und für Energy Sharing;
- Vollkommene Sektorenkopplung, d.h. Ökostrom als wesentliche Energieform in allen Energiesektoren: Strom, Wärme, Verkehr, Industrie
Um diese Ziele zu erreichen, braucht es folgende Schritte:
- Sofortige Umsetzung der EU-Richtlinie RED II zur Abschaffung der großen bürokratischen Kostenbelastungen sowie Erzeugungs- und Einspeisehemmnisse für dezentrale Ökostromeigenversorgung und Energy Sharing; Vorrang für Eigenerzeugung, Selbstverbrauch, Überschusseinspeisung und Energy Sharing für alle, für Haushalte in Ein- und Mehrfamilienhäusern, in Mietshäusern, städtischen Quartieren, öffentlichen Liegenschaften, Gewerbe und Unternehmen.
- Vorrang für alle direkten Grünstrom-Kundenbeziehungen ohne Zwischenschaltung der Strombörse, für Grünstromhändler und direkte Erzeuger-Kunden-Verträge (PPA).
- Entfernen des Ökostromes aus der aktuellen Strombörse – mit dem Ergebnis der Abschaffung des Merit-Order-Zwangs für Ökostrom. Gelingen kann dies mit der Schaffung einer eigenen Strombörse nur für Ökostrom. Die bestehende Strombörse bleibt für den Schmutzstrom aus Kohle, Erdgas, Erdöl und Uran erhalten. Da Ökostrom heute wesentlich billiger ist als der fossil-atomare Strom, wird dies einen enormen Marktanschub für die Ökostromerzeugung und gleichzeitig ein Zurückdrängen des klimaschädlichen Schmutzstromes bringen.
- Schaffung einer EEG-Umlage II für alle neuen geförderten Ökostromanlagen. Diese EEG-Umlage darf nicht steuerfinanziert sein, damit der bremsende Zugriff der EU-Kommission abgeschafft wird. Zudem sollte wieder ein EEG-Umlage-Mechanismus geschaffen werden, ähnlich wie im EEG 2000, also keine Vermarktung des EEG-Stromes an der Börse.
- Befreiung des Ökostromes von der Stromsteuer und anderen finanziellen Auflagen.
- Die Abschaffung jeglicher Planwirtschaft des Staates: Keine staatliche Festlegung von Ausbauvolumina und keine staatliche Ausschreibung.
- Eine neue EEG-Förderung für alle Ökostrom-Einspeiser, die systemdienlich in die Netze einspeisen, also unter Beachtung der Netzlast sowie Lieferung von Systemdienstleistungen wie Spannungs- und Frequenzhaltung (Kombikraftwerksvergütung). So können zunehmend auch die jetzt davon galoppierenden Netzgebühren im Zaume gehalten werden.
Hammelburg, 20. September, 2022
Ihr Hans-Josef Fell