Für 100 Prozent Erneuerbare bis 2030 fehlt nur noch der politische Wille
Liebe Leserinnen und Leser,
Für 100 Prozent Erneuerbare bis 2030 fehlt nur noch der politische Wille
Klimareporter veröffentlichte vergangenen Montag, den 15.11, meinen Gastbeitrag über fehlenden politischen Willen zum Ausbau 100% Erneuerbare Energien.
Es gibt keine Ausreden mehr: Der rasche Umstieg auf die Komplettversorgung mit erneuerbaren Energien in allen Sektoren ist klimapolitisch notwendig, technisch machbar – und rechnet sich sogar ökonomisch.
Bereits heute führt die Klimaerhitzung um bisher 1,2 Grad zu immer dramatischeren Katastrophen auf der ganzen Erde. Neueste Klimaforschung macht deutlich, dass schon 2030 die Grenze von 1,5 Grad aus dem Pariser Klimavertrag überschritten sein wird.
Daher darf die Menschheit spätestens ab 2030 keine Emissionen mehr in die Atmosphäre entlassen und muss gleichzeitig möglichst viel CO2-Senken organisieren. Alles andere führt in eine unbeherrschbare irdische Heißzeit, in welcher es keine menschliche Zivilisation wie heute mehr geben kann.
Eine Welt ohne Treibhausgasemissionen ab 2030 bedeutet vor allem eine Energieversorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien ab 2030, denn die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle verursacht rund 60 Prozent der Treibhausgasemissionen.
Eine Umstellung der Energieversorgung in allen Energiesektoren ist auch in Deutschland bis 2030 technisch und ökonomisch machbar, scheiterte aber in den letzten zehn Jahren am fehlenden politischen Willen der Bundesregierungen unter Kanzlerin Merkel.
Wäre die vom ursprünglichen Erneuerbare-Energien-Gesetz im Jahr 2000 angestoßene exponentielle Wachstumsdynamik weitergelaufen – ergänzt durch eine Systemintegration mit Speichern –, hätte möglicherweise schon um 2020 herum eine 100-prozentige Deckung mit Ökostrom erreicht werden können.
Staatlich verordneter Einbruch
Leider wurde aber die Wachstumsdynamik bei der Photovoltaik bereits 2013 gebrochen, beim Biogas 2016 und bei der Windkraft ab 2018. Neben anderen gesetzgeberischen Fehlern waren die Hauptursachen die Umstellung von der festen Einspeisevergütung auf das Ausschreibungssystem, sowie ein erheblicher Bürokratieaufbau, besonders in der Genehmigungspraxis.
So brach von 2012 bis 2014 der Photovoltaik-Ausbau von jährlich etwa 7.000 Megawatt auf nur noch 1.000 Megawatt ein. Die Windkraft an Land kollabierte zwischen 2017 und 2019 von einem jährlichen Zubau von rund 5.000 Megawatt auf einen ähnlich niedrigen Stand.
Trotz dieses staatlich verordneten Einbruchs ließ der Ökostrom-Ausbau die Regierungsziele um Längen hinter sich. So hatte die Regierung Merkel im Jahr 2010 ein angeblich „hochambitioniertes“ Ziel von 30 Prozent Ökostromanteil ausgegeben. Zehn Jahre später wurde das Ziel mit fast 50 Prozent Ökostrom im Strommix weit übertroffen.
Auch das Ziel für 2030 von nur 65 Prozent Ökostrom erscheint vor diesem Hintergrund eher weltfremd, jedenfalls ohne Ehrgeiz.
Trotz des Ausbau-Einbruchs gab es bis 2020 in Deutschland ein relativ konstantes Wachstum des Anteils von Ökostrom an der Stromversorgung mit etwa gleichbleibenden Verdopplungszeiten von etwa sieben Jahren – von rund sechs Prozent im Jahr 2000 auf zwölf Prozent 2007, etwa 27 Prozent 2014 und eben knapp 50 Prozent 2020.
Das aktuelle schlechte Windjahr, der steigende Strombedarf nach der Coronawirtschaftskrise und der beginnende Rückbau von sogenannten Post-EEG-Anlagen lassen zwar für 2021 einen Ökostromanteil deutlich unter 50 Prozent erwarten.
Dennoch ergäbe eine rechnerische Fortführung der beschriebenen Wachstumskurve 100 Prozent Ökostrom im Jahr 2027. Auch mit einer am Ende der Sättigung eintretenden Abflachung wären jedenfalls 100 Prozent im Jahr 2030 wahrscheinlicher als die anspruchslosen 65 Prozent der scheidenden Regierung.
Plan für 100 Prozent Erneuerbare in allen Sektoren
Nun gibt der notwendige Klimaschutz aber vor, dass nicht nur die Stromversorgung, sondern die gesamte Energieversorgung, also auch Wärme, Verkehr und Industrie, bis 2030 auf 100 Prozent Erneuerbare Energien umgestellt werden müssen.
Inzwischen sind sich die meisten Analysten einig, dass dies mindestens einer Verdopplung der Stromerzeugung bedarf, weil Ökostrom dann auch für die E-Mobilität im Verkehr, für Wärmepumpen im Gebäudesektor und für grünen Wasserstoff in der Industrie zur Verfügung stehen muss.
Die Energy Watch Group hat in diesem Frühjahr einen Plan vorgelegt, wie ganz Deutschland zu jeder Stunde des ganzen Jahres, also auch in Dunkelflautenzeiten und in allen Energiesektoren, zu 100 Prozent erneuerbar versorgt werden könnte. Danach sind erhebliche exponentielle Steigerungen der aktuellen jährlichen Ausbauraten um das bis zu 20-Fache notwendig. Allein der jährliche Solarausbau müsste im Mittel auf etwa 80.000 Megawatt gesteigert werden.
Auch hohe Investitionen in den Speicherbau sind erforderlich, wobei eine Vielzahl von Speichertechnologien angepasst an die örtlichen Verhältnisse notwendig sind, angefangen von Batterien – wobei auch die Batterien der E-Mobile stationär und mit bidirektionalen Ladestationen in das Stromsystem eingebunden werden. Wichtig sind als Speicher auch grüner Wasserstoff, Wärmespeicher oder Pumpspeicher.
Daher ist die wichtigste direkt vor uns stehende Aufgabe eine industrielle Offensive für den Neubau vieler Solarfabriken, Windkraftfabriken, Bioenergieanlagenhersteller, Geothermieausstatter und Wasserkraftproduzenten, genauso wie neue Fabriken für Speicher, Wärmepumpen oder E-Mobile, damit die rasant steigende Nachfrage überhaupt gestillt werden kann.
Auch eine Handwerksoffensive ist erforderlich, um die Techniken an die Kundschaft zu bringen. Hierauf muss die neue Regierung ein besonderes unterstützendes Augenmerk setzen.
Zudem müssen die im letzten Jahrzehnt immer schlechter gewordenen gesetzlichen Rahmenbedingungen für das private Investieren in die Ökostromerzeugung und -speicherung wieder massiv verbessert werden. Stichworte dazu sind Bürokratieabbau, Genehmigungserleichterungen, moderne feste oder gleitende Einspeisevergütungen statt Ausschreibungen und die Kombikraftwerksvergütung zur Stimulation der Sektorenkopplung.
Konventionelle Erzeugung wird zum Kostenproblem
Dass solche exponentiellen Wachstumskurven ähnlich wie bis 2012 erneut angestoßen werden können, ist sogar wesentlich leichter als im Jahr 2000. Denn die Energieerzeugung aus Erneuerbaren Quellen ist heute wesentlich günstiger als die aus fossilen und atomaren Energien.
Selbst lokale Investitionen in eine Vollversorgung mit 100 Prozent Erneuerbaren Energien inklusive Speicher sind heute vielfach wettbewerbsfähig gegenüber dem Neubau konventioneller Anlagen. In einigen Jahren werden sie sogar günstiger sein als der Betrieb von Erdgas-, Kohle- oder Atomkraftwerken, wie unsere aktuelle Kurzstudie zeigt.
Es gibt also keine Ausreden mehr: Der Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare rechnet sich sogar ökonomisch und wird schon deshalb in den nächsten Jahren weiter Fahrt aufnehmen.
Beschleunigt wird diese Energietransformation auch durch die jüngsten Preissteigerungen der Energierohstoffe Erdgas, Erdöl und Kohle.
Wer sich nicht vorstellen kann, dass es eine Industrierevolution für 100 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030 geben kann, sollte sich einmal in der Industriegeschichte unserer Zivilisation umschauen.
Eine Dekade war häufig der Zeitraum für große industrielle Veränderungen, so die Umstellung von Pferdekutschen hin zum Auto nach 1900 oder die Einführung von PCs, Laptops, Internet und Mobilfunk, die sich alle in etwa einer Dekade mit rasanten Wachstumskurven durchsetzten. Warum nur soll dies nicht auch für eine Transformation zu 100 Prozent Erneuerbaren Energien gelingen?
Die wesentliche Voraussetzung in Deutschland ist das Ausräumen der unter den Merkel-Regierungen organisierten Ausbauhürden. Wenn die neue Regierung dieses im Sondierungspapier angedeutete Ziel umfassend in Politik umsetzt, werden wir 100 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030 in Deutschland erreichen.
Hammelburg, 17. November 2021,
Ihr Hans-Josef Fell