Ukraine: Präsident Selenskyj hat noch keinen Kurswechsel in der Energiepolitik eingeleitet

Liebe Leserinnen und Leser,

Ukraine: Präsident Selenskyj hat noch keinen Kurswechsel in der Energiepolitik eingeleitet

In der Ukraine fehlt weiter eine starke wirtschaftliche Entwicklung, um der weit verbreiteten Armut mit neuem Beschäftigungszuwachs zu begegnen. Stattdessen haben wenige Oligarchen das Heft weiterhin fest in Ihrer Hand, mit all den negativen Begleiterscheinungen, bis hin zur Korruption. Dominant ist dabei nach wie vor der Energiesektor. Neben den fossilen Energien, die fast 75% der produzierten Gesamtenergie bereitstellen, ist auch die Atomenergie ein maßgeblicher Faktor der ukrainischen Energie- und vor allem Stromversorgung. 15 Atomreaktoren erzeugen fast 50% der Elektrizität und etwa 25% der Gesamtenergie des Landes

Sie stellen eine große Gefahr dar, wie wir in der Zeit nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auch in Deutschland erfahren mussten – noch immer gibt es auch in Deutschland Gegenden, in denen Wildfleisch oder Pilze so hoch verstrahlt sind, dass sie nicht verzehrt werden können. Von diesen Reaktoren erreichen 12 in diesem Jahr ihre ursprünglich definierte Altersgrenze von 35 Jahren. Jede Laufzeitverlängerung stellt somit ein hohes Risiko dar. Den Löwenanteil der ukrainischen Energieversorgung stellen Kohle, Erdöl und Erdgas bereit. Erneuerbare Energien spielen hingegen in der Ukraine eine bislang untergeordnete Rolle und decken nur rund 4% der produzierten Gesamtenergie ab.

Diese Abhängigkeit von den alten Energien hat gravierende negative Folgen für Bevölkerung und Wirtschaft. In einem kürzlich veröffentlichten Papier hat die Heinrich-Böll-Stiftung die Energiebilanz der Ukraine kurz und verständlich zusammengefasst

Danach hat die Ukraine mit 130 jährlichen Toten pro 100.000 Einwohnern die weltweit höchste Mortalitätsrate durch Luftverschmutzung, insbesondere verursacht durch Kohlekraftwerke. Die direkten staatlichen Subventionen in Energie verschlingen 3,8 Milliarden Euro, was einen erheblichen Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine darstellt. Auch der Pro-Kopf-CO2-Ausstoß gehört zu den höchsten in der Welt.

Seit Jahren wird in der ukrainischen Politik vielfach diskutiert, den Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv zu beschleunigen. Hier gibt es bisher aber keine nennenswerten Fortschritte, trotz erheblichem bürgerlichem und kommunalem Engagement. So haben die Städte Zhytomyr, Chortkiv, Lwiw und Kamianets beschlossen ihre Energieversorgung bis 2050 auf 100% Erneuerbare Energien umzustellen.

Doch die nationale Gesetzgebung (massiv beeinflußt durch die Interessen der Energie-Oligarchen) behindert die Umstellung auf Erneuerbare Energien, statt sie zu fördern. So hatte der ehemalige Präsident Poroschenko noch als eine seiner letzten Amtshandlungen im Sommer 2019 ein Gesetz unterzeichnet, wonach die Ukraine von beginnend erfolgreicher Einspeisevergütung auf Ausschreibungen umstellt. Seitdem erlebt der Ausbau der Erneuerbaren einen Stillstand; nur wenige dezentrale bürgerliche Investitionen bspw. in die Solarenergie sind zu verzeichnen. Die Umstellung auf Ausschreibungen wird nun voraussichtlich auch die Investitionen in Erneuerbare Energien in die Hände der Oligarchen legen und damit die zukünftige Kontrolle über das ukrainisch Energiesystem. Politisch forderten EU, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und auch die Bundesregierung die Umstellung auf Ausschreibungen. Womit sich erneut zeigt, wie schlimm sich die deutsche Anti-Erneuerbare-Energien-Politik auch im Ausland niederschlägt.

Die neue Regierung unter Präsident Selenskyj hat bisher keine Korrektur dieser verheerenden Gesetzgebung eingeleitet. Immerhin veröffentlichte das ukrainische Energie- und Umweltschutzministerium am 21. Januar den Entwurf eines Regierungskonzeptes für eine grüne Energietransformation der Ukraine bis 2050, das „Ukraine 2050 Green Energy Transition Concept“ oder wie es in der Unterüberschrift heißt: Ukraine Green Deal. 

Für ukrainische Verhältnisse klingt der Entwurf radikal. Für die Notwendigkeiten, wie sie sich aus Klimaschutz und den Gefahren der Atomenergie ergeben, strebt der Entwurf vollkommen unzulängliche Ziele an. Zwar bekennt sich die Ukraine erneut zu den Pariser Klimazielen und schlägt dafür vor, bis 2070 klimaneutral werden. Ein Widerspruch in sich, denn, wie erst kürzlich die NASA belegte, wird die Welt das 1,5°C Ziel wohl schon 2035 überschritten haben, wenn die Menschheit nicht schnellstmöglich auf Nullemissionen umstellt. Wie die dann noch sehr hohen Emissionen bis 2070 mit den Pariser Zielen vereinbar sind, bleibt das Geheimnis der ukrainischen Regierung. Allerdings ist die Ukraine mit ihrer Position nicht alleine auf der Welt. Fast alle Regierungen, auch die deutsche und die gesamte EU täuschen sich selbst und die Öffentlichkeit, denn ihre Klimaneutralitätsziele bis 2050 werden ebenfalls nicht dazu führen, die Pariser Ziele einzuhalten.

Zudem setzt der Entwurf des „Ukraine Green Deal“ auf neuartige kleine und mittlere Atomkraftwerke zu setzen, s.g. Small Modular Reactors (SMR). Auch in der Ukraine greift offensichtlich die Propaganda der weltweiten Atomlobby, z.B. durch Bill Gates.

In meinen Gesprächen mit Vizeminister*innen des Energie- und Umweltschutzministeriums, Abgeordneten und der staatlichen Energiebehörde SAEE in Kiew empfahl ich erneut eine Umstellung auf 100% Erneuerbare Energien bis 2030. Nur dadurch wäre die Ukraine in der Lage Klimaschutz, Atomausstieg, boomende Beschäftigung, saubere Luft und politische Unabhängigkeit von ausländischen Energielieferungen zu erreichen. Ein Zurück zur Einspeisevergütung, teilweise finanziert aus EU-Hilfsgeldern, um weiterhin sozial verträgliche Strompreise zu garantieren, stand dabei im Zentrum meiner Vorschläge.

Es gibt durchaus viele aktive Menschen in der Ukraine, die diese Vorschläge unterstützen. Bemerkenswert ist der Streit in der Ukraine um die hohen ersparten Geldmittel, die plötzlich in nie erwartender Höhe durch den neuen Erdgasdurchleitungsvertrag von russischem Erdgas durch die ukrainischen Pipelines zustande gekommen sind.

Dem erfolgreichen Verhandler Yuriy Vitrenko, Direktor von Naftogas, wurde vorgeworfen, dass die ihm im Vorfeld zugesagte Provision im Falle des Verhandlungserfolgs mit Gazprom zu hoch sei. Vitrenko ging daraufhin in die Offensive und schlug vor, dass seine millionenschwere Provision genauso wie die durch seinen Verhandlungserfolg dem ukrainischen Staat ersparten Gelder von ca. 10 Milliarden US-Dollar direkt an die Bevölkerung weitergegeben werden sollten und zwar ausschließlich im Energiesektor. Vitrenko schlug vor, die desolaten privaten häuslichen Energiesysteme (in vielen ukrainischen Wohnungen gibt es bis heute keine Thermostatventile, geschweige denn ausreichende Hausdämmung). Damit hätte jeder Haushalt in der Ukraine etwa 500 Euro für Energieeffizienzmaßnahmen zur Verfügung – ein Vermögen für viele Ukrainer*innen.

Bis heute gibt es noch keine Reaktion auf diesen Vorschlag Vitrenkos, der einen erheblichen Beitrag der Ukraine für Klimaschutz, Beschäftigung und Luftreinhaltung bringen würde. Es bleibt zu hoffen, dass die Regierung Selenskyj diesen Vorschlag aufgreift und sich nicht erneut die Oligarchen durchsetzen, die dadurch einen beträchtlichen Teil ihres Geschäftes mit schmutziger Kohle und Atomkraft bedroht sehen.

Hammelburg,18. Februar 2020

Ihr Hans-Josef Fell