Ukraine am Scheideweg: Demokratie oder Erdgas – EU oder Russland

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Seit Jahren warnen viele Stimmen, dass die hohe Abhängigkeit Europas von russischen Erdöl- und Erdgaslieferungen zu immer stärkeren politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen führen wird. Vor allem in der Phase des Peak Oil (globales Ölfördermaximum), in der sich die Weltgemeinschaft nach Aussagen vieler Erdölexperten gerade befindet, und noch mehr nach dessen Überschreiten, werden die politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen weltweit massiv zunehmen – besonders jedoch in Europa, dem großen Wirtschaftsraum mit der höchsten Abhängigkeit von fossilen Rohstoffimporten.

So kann man in der Studie „Peak Oil“ des Transformationszentrums der Bundeswehr vom Juli 2010 folgende bemerkenswerte Aussage nachlesen: „Länder wie Russland können diesen Einflussgewinn durch den eigenen Ressourcenreichtum weiter ausbauen und konsolidieren, da vor dem Hintergrund des Peak Oil insbesondere die Bedeutung von Gas für die globale Energieversorgung rasant wächst. Während Rohstoffreichtum allein heute noch keinen einflussreichen internationalen Akteur ausmacht, lässt sich vor dem Hintergrund des Peak Oil die Verfügungsgewalt über Energie zunehmend in globale Gestaltungskraft und die Mitbestimmung internationaler Regeln übersetzen.“

Da alle Wirtschaftssektoren in allen Volkswirtschaften der Welt mehr oder weniger vom Erdöl und anderen fossil-atomaren Rohstoffen fundamental abhängen, führt die Verknappung der Rohstoffe nach Überschreiten des Fördermaximums für Erdöl in immer größere politische Abhängigkeiten. Im Endeffekt wird eine werteorientierte Politik zunehmend abgelöst von dem Diktat der Absicherung des Ressourcenzuganges – manche Staaten trifft dies früher, andere später. Peak Oil bedeutet nichts Anderes als die reale Gefahr, dass eine bis dato dem Rechtsstaat verpflichtete Politik unter das Diktat der Energielieferanten gerät. Es sei denn, die Nationalstaaten befreien sich aus der Erpressbarkeit durch ihre Energieimportabhängigkeit und machen ihre Energieversorgung mit heimischen Erneuerbaren Energien unabhängig von fossilen Energieimporten. Doch das geht im großen Stil nur mit einer Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien.

Im Falle der Ukraine, aber auch der gesamten EU, ist dieser Weg in den letzten Jahren von den politisch Verantwortlichen nicht oder nicht konsequent genug gegangen worden. Selbst in der aktuellen deutschen Politik werden diese Zusammenhänge nicht gesehen oder negiert. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien wird im Koalitionsvertag von Union und SPD abgeschwächt und unter das falsche Diktat der Kostensenkung gesetzt, anstatt das alles überragende Ziel einer Vollversorgung mit Erneuerbaren Energien in einigen Jahren anzustreben, was technisch machbar wäre und Deutschland für alle Zeiten aus der Erpressbarkeit von Energielieferländern zu befreien. Und ganz nebenbei wäre so auch der Klimaschutz durchgesetzt.

Dabei ist diese Entwicklung schon seit Jahren abzusehen. Je stärker die Ressourcenverknappung im Erdölsektor (wegen des Erreichens des Peak Oil) wirkt, umso mehr bestimmen die Zugangswünsche zu fossilen Energielieferungen die Leitlinien internationaler Politik. Die Behinderung eines schnellen Ausbaus der nationalen Eigenversorgung mit Erneuerbaren Energien verschärft also die Importabhängigkeitsprobleme bei fossilen und nuklearen Ressourcen.

Wie wirkmächtig diese Abhängigkeiten sind, zeigt das Beispiel der Ukraine. Bereits die Drohungen Russlands mit Erdgasabschaltungen (die sie vor Jahren schon mehrfach wahr gemacht hatten) haben die Ukraine von einer Annäherung an die EU abgehalten. Dies zeigt auch das ganze Ausmaß der politischen Hilflosigkeit der EU, der Ukraine und Deutschland im Energiemachtpoker.

Noch am Montag vor dem Gipfel in Vilnius hat Kanzlerin Angela Merkel Präsident Putin in einer Regierungserklärung gewarnt: „Um es klar zu sagen: Die Länder entscheiden allein über ihre zukünftige Ausrichtung. Ein Veto-Recht Dritter kann es nicht geben. Das ist unser Verständnis der gegenseitigen Achtung der Entscheidungsfreiheit, wie sie in der OSZE-Charta festgeschrieben ist.“ Eine hehre Aussage, die aber durch nichts machtpolitisch durchgesetzt werden kann.

Die Drohungen Russlands, den Gashahn abzudrehen, müssen nach den Erfahrungen der Vergangenheit sehr ernst genommen werden. Gerade die Menschen in der Ukraine wissen nach den letzten winterlichen Abschaltungen, was es heißt, wenn bei minus 30 Grad Celsius nicht genug Erdgas vorhanden ist. Obwohl die Industrieproduktion in der Ukraine zurückgefahren wurde, sind Menschen in ihren Wohnungen erfroren.
Natürlich sind weder das undemokratische Machtkalkül noch die brutalen Polizeieinsätze gegen Demonstranten durch Präsident Janukowitsch akzeptabel. Aber dabei darf nicht übersehen werden, was passieren würde, wenn Putins Drohung erneut und dann vielleicht gar über mehrere Monate oder gar Jahre realisiert würde. Gerade deshalb sind die Äußerungen von EU-Ratspräsident Van Rompuy und Kommissionspräsident Barroso nach der Weigerung von Präsident Janukowitsch, das Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, nur als hilfloser Versuch zu deuten, ihre Machtlosigkeit zu verbergen.

Geradezu lächerlich ist das Angebot von Energiekommissar Oettinger, der Ukraine bei russischen Abschaltungen über die Slowakei europäische Gaslieferungen anzubieten. Wie bitte? Hatte denn nicht ganz Südosteuropa, bis hinein nach Deutschland das Abschalten der Gaslieferungen durch die ukrainischen Gaspipelines mehrfach gespürt? Wo sollen denn die zusätzlichen Gasmengen herkommen? Die EU war nicht einmal in der Lage, den Erdgasmangel innerhalb ihrer Grenzen auszugleichen. Und nun bietet Kommissar Oettinger der Ukraine gar noch zusätzliches Erdgas an? Großbritannien, die Niederlande und bald auch Norwegen, also die wichtigsten europäischen Förderländer, sind längst in der rückläufigen Förderung und können diese nicht weiter steigern. Die Erdgasimporte nach Europa über zusätzliche LNG Terminals rasch zu steigern und damit die Importländer zu diversifizieren ist illusorisch, und wird bei einer Gazprom-Erdgasabschaltung in den nächsten Jahren wenig helfen. Und selbst die großen Erdgasspeicher können überlistet werden, wenn Gazprom nur lange genug abschaltet. Wenn EU-Kommissar Oettinger die Ukraine wirklich über die Slowakei mit großen Mengen Erdgas beliefern will, dann muss er wohl Russland bitten, die Importe nach Deutschland über die Ostseepipeline zu erhöhen. Mal abgesehen davon, dass dies die Pipeline-Kapazitäten übersteigen würde, bliebe abzuwarten, wie dann Putin versuchen würde, Deutschland ebenfalls über die Abhängigkeit von russischem Erdgas unter Druck zu setzen. Vielleicht auch noch mit dem Abschalten der Ostseepipeline? Neue Erdgaskunden baut Gazprom ja gerade mit neuen Pipelines, z. B. nach China auf.

Es wird deutlich: Mit seinem Vorschlag, der Ukraine im Falle einer Abschaltung durch Gazprom Erdgas über die Slowakei zu liefern, hat Kommissar Oettinger erneut nur seine Inkompetenz in Energiefragen aufgezeigt. Und Kanzlerin Merkel hat ihm folgend das Angebot gleich verstärkt, ohne über genügend Erdgas zu verfügen. Der Ukrainische Energieminister war bei den EU-Verhandlungen dabei und wird seinem Präsidenten gleich gesagt haben, dass die EU das Angebot Oettingers im Ernstfall gar nicht würde erfüllen können.

Inzwischen hat die Erpressbarkeit der EU durch die russische Energielieferabhängigkeit Ausmaße angenommen, die zunehmend ausweglos erscheinen. Die Weigerung der Ukraine zur Annäherung an die EU ist nur ein erster schlimmer Effekt. Die berechtigten Aufstände der Opposition in der Ukraine sind eine weitere, sehr verständliche Auswirkung. Zu viele Menschen können sich einfach noch an die Unterdrückung im Sowjetstaat erinnern. Russland kann aber der Destabilisierung der Ukraine geruhsam zuschauen und dem Land im Stillen über Erdgasabhängigkeit politisch Druck machen, wenn es doch wieder zu europäisch werden sollte. Ein paar Wochen frierende Ukrainer werden schon gefügiger werden.

Und was will dann Europa da machen?

Die in Deutschland geplanten neuen Erdgaskraftwerke würden die Abhängigkeit und damit die Möglichkeit verschärften politischen Drucks vom Erdgaslieferanten Russland erhöhen. Absurderweise sollen diese aber einen Beitrag für die Energieversorgungssicherheit liefern, so versichern Land auf und Land ab in allen Diskussionen zur Energiewende Unions- und SPD-Politiker, sogar hinein bis in Grünen-nahe Politikkreise. In Wirklichkeit führen neue Erdgaskraftwerke zwingend tiefer in die politischen Abhängigkeiten von Russland und damit in Versorgungsunsicherheiten.

Europa und auch die Ukraine haben es in den letzten Jahren versäumt, den Ausbau einer von Rohstoffimporten unabhängigen Energieversorgung schneller voran zu treiben. Im Gegenteil, die EU behindert vor allem in Gestalt von Energiekommissar Oettinger den Ausbau der Erneuerbaren Energien und nimmt sich so selbst das wichtigste Gegenmittel gegen Russlands Machtausweitung mittels Erdöl und Erdgas.
Alle Regierungen in Europa haben in den letzten Jahren an der alten Energieversorgung festgehalten. Bezeichnenderweise sitzt die frühere ukrainische Regierungschefin Timoschenko wegen angeblich ungesetzlicher Erdgasgeschäfte mit Russland im Gefängnis. Als sie noch regierte, habe ich ihren engsten Beratern meine im Bundestag über die grüne Fraktion eingebrachten und von der damaligen großen Koalition leider abgelehnten Anträge für eine europäische Biogasstrategie gegeben. Sie waren von dem wissenschaftlichen Nachweis geprägt, dass es in Europa bis zum Ural genügend brachliegende landwirtschaftliche Flächen gibt, die ohne Lebensmittelkonkurrenz in der Nähe der Erdgaspipelines so viel Biogas hätten erbringen können, dass damit der europäische Erdgasbedarf weitgehend hätte ersetzt werden können. Dies hätte der Ukraine hunderttausende neuer Jobs gebracht, und vor allem neue, über Jahrhunderte nicht versiegende Gasquellen, die eine Unabhängigkeit von den russischen Erdgaslieferungen möglich gemacht hätten. Zudem wären so neue Geschäftsbeziehungen mit der EU entstanden, was die starke wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von Russland entspannt hätte. Doch Denkweisen wie diese sind leider bis heute fast allen regierenden Politikern in Europa fremd. Sie versuchen weiterhin, innerhalb der fossil-atomaren Energieversorgung Lösungen zu finden und merken nicht, dass es sie dort gar nicht mehr geben kann. Und an anderer Stelle setzen sie den schnellen Ausbau der Erneuerbaren Energien aufs Spiel – die wichtigste Lösung der Energieprobleme.

Das Ergebnis wird sein, dass noch mehr als heute schon die werteorientierte Politik zurückgedrängt werden wird und sich die Politik deshalb immer stärker auf die Beschaffung der Energierohstoffe wird konzentrieren müssen – ganz im Sinne der sicherheitspolitischen Warnungen, die 2010 die Bundeswehr in ihrem Wissenschaftszentrum in Straußberg formulierte. Eine Umstellung der EU und der Ukraine auf Erneuerbare Energien wird zwar die aktuelle Krise in der Ukraine nicht sofort entschärfen können, aber anderenfalls wird es in den sich immer schneller entwickelnden politischen Spannungen infolge von Peak Oil auch langfristig keine Lösungen geben. Nur mit der Umstellung auf Erneuerbare Energien kann die Abhängigkeit von fossilen Energieressourcen schrittweise beendet werden. Nur mit Erneuerbaren Energien hat eine werteorientierte Politik in Europa eine Zukunft.

Berlin, den 04.12.2013

Ihr Hans-Josef Fell